Psychische Erkrankungen bei jungen Menschen – die Rolle der Familie
Wenn ein Kind psychisch erkrankt, steht oft die ganze Familie vor großen Herausforderungen. Welche Rolle spielen familiäre Beziehungen im Kontext psychischer Erkrankungen junger Menschen? Ein Interview mit Prof. Dr. Dr. Holtmann, Ärztlicher Direktor der LWL-Universitätsklinik Hamm.
Welche Bedeutung hat Familie für Kinder und Jugendliche?
Zuerst einmal müssten wir darüber sprechen: Was meint Familie? Es gibt ganz unterschiedliche Familienmodelle. Aber: In all ihren Formen prägt Familie das Leben junger Menschen maßgeblich – sie kann dabei sowohl eine unterstützende Ressource als auch eine Herausforderung darstellen. Wie gehen wir miteinander um? Sprechen wir offen über Konflikte? Sprechen wir offen über Gefühle? In der Familie lernen Kinder und Jugendliche, sie bekommen Werte, Haltungen und Einstellungen vermittelt. Die Familie ist dabei meist der erste soziale Raum, in dem Kinder und Jugendlichen grundlegende Erfahrungen machen.
Welche Rolle spielen familiäre Beziehungen im Kontext psychischer Erkrankungen?
Im Kontext psychischer Erkrankungen spielt die Familie eine vielschichtige Rolle. Wir sprechen in diesem Zusammenhang von familiären Schutzfaktoren und familiären Risikofaktoren. Kinder und Jugendliche können im familiären Umfeld Sicherheit und Geborgenheit erleben, ebenso zahlreiche Konflikte, die das Risiko für psychische Erkrankungen erhöhen. Auch die Genetik ist ein zu beachtender Faktor. Wenn ein Elternteil an einer Depression leidet, besteht ein erhöhtes Risiko für das Kind – aber es wird nicht zwangsläufig ebenfalls depressiv. Ein gängiges Vorurteil ist: Die Eltern sind schuld, wenn das Kind psychisch erkrankt. Diese vereinfachte Sichtweise greift zu kurz. Eltern sind nicht schuld. Wie sie mit der Situation umgehen, hat oftmals jedoch einen erheblichen Einfluss auf den Verlauf der Erkrankung des Kindes. Daher ist es so wichtig, die Eltern und Angehörigen in den therapeutischen Prozess mit einzubeziehen.
Das gesamte Familiensystem im Blick
Wie kann die Einbeziehung der Eltern und Angehörigen in den therapeutischen Prozess aussehen?
Wir sagen immer: Die Familie ist der Patient. Eine psychische Erkrankung des Kindes betrifft in der Regel das gesamte Familiensystem. Wichtig ist dementsprechend eine ganzheitliche Betrachtung. Es gibt unterschiedliche Ansätze, zum Beispiel die Familientherapie, um die Familie in den therapeutischen Prozess mit einzubeziehen. In der Multifamilientherapie können sich betroffene Familien untereinander austauschen, miteinander lernen und sich gegenseitig unterstützen. Im Elterntraining erhalten die Eltern konkrete Hilfestellungen für den Umgang mit herausfordernden Situationen. In der Klinik bieten wir außerdem Elternhospitationen an. So haben Eltern beispielsweise auf der Station für Essstörungen die Möglichkeit, am gemeinsamen Mittagessen mit ihrem Kind teilzunehmen – welches zuhause oftmals eine sehr belastende Situation darstellt. Im gemeinsamen Gespräch sprechen wir mit den Familien anschließend darüber, was dabei gut gelaufen ist. Insgesamt geht es bei der Einbeziehung der Familien vor allem darum, unterschiedliche Wahrnehmungen anzuerkennen, Ursachen besser zu verstehen und dabei zu unterstützen, nachhaltige Veränderungen zu bewirken. Ein Punkt, bei dem wir noch besser werden müssen, ist die Einbeziehung der Geschwisterkinder.
Welche Rolle spielen sich verändernde Familienstrukturen im Kontext psychischer Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen?
Im therapeutischen Prozess gilt selbstverständlich, die unterschiedlichen Familienmodelle individuell zu berücksichtigen. Das Konstrukt „Familie“ hat sich mit den Jahren stetig verändert. Es gibt klassische Familienmodelle, ebenso Patchwork-Familien, alleinerziehende Eltern und viele weitere Formen des Zusammenlebens. Diese Entwicklungen bringen Chancen sowie Herausforderungen mit sich. Bezüglich psychischer Belastungen spielt hier weniger die Form des Familienmodells eine Rolle, sondern vielmehr der Umgang miteinander. Moderne Familienformen können genauso stabilisierend wirken wie klassische – sofern sie ein unterstützendes und verständnisvolles Umfeld schaffen Die Familientherapie wird mit komplexeren Familienstrukturen natürlich ebenfalls komplexer. Welche Personen werden beispielsweise nach einer Trennung der Eltern in den therapeutischen Prozess mit einbezogen, wenn neue Partner mit im Spiel sind? Hier muss gemeinsam mit den Betroffenen entschieden werden, wie wir auf die individuellen Bedürfnisse der Familien eingehen können.