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Die Familie als Patient – Familien im Sinne der Familienmedizin ganzheitlich unterstützen

Die ganze Familie in den Blick nehmen – das ist das Konzept der Familienmedizin. „Nach diesem integrativen Ansatz wird die Familie sozusagen als Patient gesehen“, erklärt Prof. Dr. Dr. Martin Holtmann, Ärztlicher Direktor der LWL-Universitätsklinik Hamm. Es komme vor, dass psychische Erkrankungen oder Belastungen in Familien über mehrere Generationen hinweg auftreten.

Eine psychische Erkrankung eines Familienmitglieds oder mehrerer Familienmitglieder wirke sich meist auf das ganze Familienleben aus, erklärt Dr. Dr. Meike Woerdemann, Oberärztin der Tageskliniken und Ambulanzen für Kinder- und Jugendpsychiatrie Rheda-Wiedenbrück und Gütersloh: „Bei Kindern psychisch erkrankter Eltern beobachten wir oftmals eine große Verunsicherung. Viele fragen sich, ob sie selbst schuld an dem Verhalten der Mama oder des Papas sind.“ Ein ganz typischer Gedanke sei dann zum Beispiel: „Vielleicht ist Mama heute wieder traurig, weil ich böse war“. Klappt die Versorgung Zuhause nicht, tragen die Kinder schon sehr früh eine große Verantwortung. Viele betroffene Familien würden sich außerdem isolieren: „Die Kinder dürfen oder wollen dann zum Beispiel keine Freunde zu sich einladen, um die schwierige Familiensituation zu verbergen“, so Meike Woerdemann. Eine psychische Erkrankung der Eltern sei insgesamt ein Risikofaktor für eine psychische Erkrankung der Kinder.

Unterstützung für Familien mit einem komplexen Hilfebedarf

Umso wichtiger ist es, Familien mit einem komplexen Hilfebedarf zu unterstützen und ganzheitlich dabei zu denken. Im Rahmen einer Kooperation arbeitet die LWL-Universitätsklinik Hamm im Kreis Gütersloh eng mit der LWL-Klinik Gütersloh, den Jugendämtern der Stadt und des Kreises Gütersloh sowie den freien Trägern der Jugendhilfe zusammen.

Entwickelt hat sich die Kooperation durch konkrete Behandlungsfälle, die verdeutlicht haben, wie wichtig eine multiprofessionelle, institutionsübergreifende und hilfesystemübergreifende Vernetzung ist. „Ein Erwachsenenpsychiater denkt vielleicht nicht immer direkt daran, auch nach den Kindern zu fragen. Die Kinder sollten mit so einer Situation jedoch nicht alleine fertig werden müssen. Mit der Kooperation möchten wir daher den Austausch unter den Kolleginnen und Kollegen verschiedener Bereiche stärken“, so Meike Woerdemann. Ziel sei dabei, problematischen Entwicklungen vorzubeugen, systematische Aspekte mit zu berücksichtigen und auf die familiäre Situation abgestimmte Behandlungsoptionen für die Betroffenen niedrigschwellig anzubieten zu können.

Kooperation der unterschiedlichen Hilfesysteme

Ein wichtiger Bestandteil der Kooperation ist die Familienmedizinische Ambulanz (faImeIam) in der LWL-Klinik Gütersloh. Hierbei handelt es sich um ein Angebot für Familien mit einem psychisch erkrankten oder belasteten Familienmitglied oder mehreren betroffenen Familienmitgliedern. Auch junge Erwachsene mit psychischen Erkrankungen oder Hinweisen auf eine psychische Erkrankung können sich an die Familienmedizinische Ambulanz wenden. Entwickelt hat sich das Angebot als Teil der Institutsambulanz der Allgemeinpsychiatrie in Kooperationsstruktur mit der NischE. Die NischE ist ein Präventionsangebot für Kinder psychisch kranker Eltern im AWO-Kinderschutzzentrum, das nach einer erfolgreichen Projektphase inzwischen als festes Angebot durch die LWL-Klinik Gütersloh, die LWL-Universitätsklinik Hamm sowie die Jugendämter der Stadt und des Kreises Gütersloh gemeinsam finanziert und inhaltlich stetig weiterentwickelt wird. „Merken wir beispielsweise, dass es mehrere Belastungen in einer Familie gibt, können wir auf das Angebot der NischE verweisen“, so Meike Woerdemann.

„Wir beraten die Familien dann und ermitteln die Hilfebedarfe, im engen Austausch mit den Behandelnden. Auch eine anonyme Beratung ist möglich.“, erklärt Lina Konert, Familienberaterin der NischE. Die Hilfestellung der NischE ist sehr komplex. Unter anderem unterstützt das Angebot Familien u.a. dabei, über psychische Erkrankungen zu sprechen, Ressourcen und Stärken zu entdecken, die kindliche Entwicklung im Blick zu behalten, Überlastungen der Familienmitglieder vorzubeugen und bei Bedarf weitere Hilfsangebote wahrzunehmen.

Voneinander und miteinander lernen, um Perspektiven zu schaffen

Weitere wichtige Bestandteile der Kooperation sind Familienmedizinische Curricula, Interdisziplinäre Fallberatungen sowie gemeinsame Fachkonferenzen oder Weiterbildungen der beteiligten Einrichtungen. „Eine effektive Zusammenarbeit der unterschiedlichen Institutionen und Hilfesysteme ist nur dann möglich, wenn wir voneinander und miteinander lernen. Als Kinder- und Jugendpsychiatrie müssen wir wissen, wie die Jugendämter oder die Erwachsenenpsychiatrie arbeiten. Andersherum genauso. Ein gegenseitiges Verständnis spielt eine große Rolle, um die Familien ganzheitlich unterstützen und ihnen Perspektiven bieten zu können“, so Martin Holtmann.